Rezension – Jo Nesbø: Die Fährte
- annieliebt
- 9. Mai
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Mai
Ein Rücksturz in alte Fälle, alte Schmerzen – und in eine Krimireihe, die einen nicht loslässt.
Nach dem atemlosen Lesen von Durst entschied ich mich, zu den Anfängen zurückzukehren. In meinem Regal wartete schon lange Die Fährte, gemeinsam mit anderen Teilen der Reihe, ungelesen – als hätte ich unbewusst geahnt, dass ich eines Tages wieder zu Harry Hole zurückkehren würde. Nun war es so weit: Ich tauchte wieder ein in Nesbøs düstre Oslo-Welt, in der die Schatten der Vergangenheit stets näher sind, als es scheint.

Es ist ein stilles Vakuum, das bleibt, wenn jemand fort ist, ohne wirklich gegangen zu sein. Rakel ist in Moskau, um das Sorgerecht für ihren Sohn zu klären – nicht getrennt, nur entfernt, physisch. Aber für Harry Hole ist Distanz immer gefährlich. Er bleibt zurück – mit sich, mit dem Alkohol, mit einem Fall, der schnell sein ganzes Leben infrage stellt.
Ein Banküberfall, eine erschossene Mitarbeiterin, ein Täter, der vermeintlich schnell überführt ist – Harry verbringt das Wochenende damit, die Videoaufnahmen zu analysieren. Doch da ist etwas, das nicht passt. Und es ist nicht der einzige Schatten, der sich nähert.
Ein Wiedersehen mit der Vergangenheit.
Anna ruft ihn an – seine einstige Geliebte, Künstlerin, verletzlich. Sie besteht auf einem Treffen. Als Harry aus einem Rausch erwacht, ohne Erinnerung an die Nacht zuvor, wird er zu einem Tatort gerufen. Anna liegt tot auf dem Bett. Neben ihr eine Waffe. Blut. Schweigen. War es Selbstmord – oder ein perfekt inszenierter Mord?
Aber nichts bleibt, wie es scheint.
Drei Männer rücken ins Visier der Ermittlungen – ein wohlhabender Familienvater mit Hund und Geliebter; ein zwielichtiger Anführer der Roma, Besitzer eines kunstvoll geschnitzten Schachspiels; ein Kollege, der alte Rechnungen offen hat. Ein dunkler Fall von früher schwebt wie ein Damoklesschwert über allem: Der Tod einer Kollegin – ungelöst. Und ein Verdacht, der nie ganz verschwand.
Und dann geschieht das Unausweichliche: Harry selbst gerät ins Fadenkreuz.
Indizien verdichten sich. Die Schlinge zieht sich zu. Und jemand scheint ein perfides Spiel zu spielen – Mails tauchen auf, die von Harry selbst zu stammen scheinen. Der angebliche Absender gesteht darin: „Ich habe Anna getötet.“ Während der Bankraubfall offiziell abgeschlossen ist, gehen die Überfälle weiter. Die Lösung war zu einfach. Die Wahrheit liegt tiefer. Und dunkler.
Jo Nesbø spinnt in Die Fährte ein meisterhaftes Netz aus Verwirrung, Manipulation und psychologischer Raffinesse.
Was mit zwei scheinbar getrennten Fällen beginnt, wird bald zu einem schwindelerregenden Puzzle, in dem der Ermittler selbst zur Spielfigur wird. Als Leser spürt man förmlich, wie sich die Perspektiven verschieben, wie Misstrauen keimt – und wie einem die Kontrolle entgleitet. Genau wie Harry.
Fazit: Ein großartiger Band der Reihe. Die Fährte ist düster, rasant und psychologisch tief. Man verliert sich in den vielen Schichten – zwischen Schuld und Lüge, Wahrheit und Täuschung. Nesbø schreibt so dicht und intensiv, dass man mitunter vergisst, dass man liest – man lebt diesen Fall mit. Und am Ende fragt man sich: Wem kann Harry noch trauen – außer sich selbst? Und selbst da ist man sich nicht mehr sicher.
Eure Annie




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